Viele von uns tragen ein klares Selbstbild in sich: Wir möchten freundlich sein, hilfsbereit, offen, vorurteilsfrei. Dieses Bild ist nicht nur ein Ideal – es ist Teil unserer Identität. Es gibt uns Orientierung, Halt und ein Gefühl von Sinn.
Doch was passiert, wenn wir auf Menschen treffen, die dieses Selbstbild herausfordern? Menschen, die übergriffig sind, aggressiv, manipulativ – oder schlicht nicht bereit, unsere Freundlichkeit zu erwidern? Dann prallen zwei Welten aufeinander. Und wir stehen vor einem inneren Dilemma:
Lasse ich mich schlecht behandeln – oder verrate ich meine Werte, indem ich klare Grenzen setze?
Beide Optionen hinterlassen ein Gefühl von innerer Unstimmigkeit. Es fühlt sich an wie die Wahl zwischen Pest und Cholera.
- Grenzen setzen kann sich hart, kalt oder unfreundlich anfühlen – also im Widerspruch zu dem Menschen, der man sein möchte.
- Keine Grenzen setzen bedeutet oft, sich selbst zu verleugnen, sich klein zu machen oder sich verletzen zu lassen.
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Beides tut weh. Beides fühlt sich falsch an. Und doch scheint es keine dritte Option zu geben.
Warum dieser Konflikt so tief geht
Dieser innere Zwiespalt berührt zwei zentrale psychologische Bedürfnisse:
- Das Bedürfnis nach Kohärenz: Wir wollen im Einklang mit unserem Selbstbild leben.
- Das Bedürfnis nach Selbstschutz: Wir wollen uns sicher und respektiert fühlen.
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Wenn diese beiden Bedürfnisse in Konflikt geraten, entsteht emotionaler Stress – oft begleitet von Schuldgefühlen, Selbstzweifeln oder innerer Erschöpfung.
Wege aus dem Dilemma: Grenzen setzen, ohne sich selbst zu verlieren
Die gute Nachricht: Es gibt einen Weg, der beide Bedürfnisse würdigt. Hier sind einige Impulse:
1. Werte differenziert verstehen
Freundlichkeit bedeutet nicht, alles zu akzeptieren.
Hilfsbereitschaft bedeutet nicht, sich selbst aufzugeben.
Vorurteilsfreiheit bedeutet nicht, sich selbst zu verleugnen.
Deine Werte dürfen auch dich schützen. Sie sind nicht nur für andere da.
2. Grenzen als Akt der Selbstachtung
Grenzen sind keine Aggression – sie sind ein Ausdruck von Klarheit und Selbstfürsorge.
Du kannst freundlich und bestimmt sein.
Du kannst empathisch und klar sein.
Eine Grenze sagt nicht: „Du bist schlecht.“
Sie sagt: „Ich achte mich selbst.“
3. Innere Erlaubnis geben
Erlaube dir, dein Selbstbild zu erweitern:
Du bist nicht weniger liebevoll, weil du dich schützt.
Du bist nicht weniger hilfsbereit, weil du „Nein“ sagst.
Manchmal ist das Liebevollste, was wir tun können, uns selbst treu zu bleiben.
Ein Beispiel: Der belehrende Nachbar
Du stehst in deinem Garten, genießt die Ruhe, möchtest einen neuen Baum einpflanzen. Doch dein Nachbar kommt an den Zaun, wie so oft, und beginnt ungefragt zu kritisieren und zu erklären, wie man das „richtig“ macht: „Nicht so tief! Du musst die Wurzeln vorher wässern, hast du daran gedacht? Welche Erde nimmst du – oje, gar nicht gut, Produkt xyz wäre besser. Und überhaupt, der Standort ist ganz schlecht gewählt!“
Seine Worte sind nicht direkt böse, aber sie klingen übergriffig. Du fühlst dich bevormundet, vielleicht sogar klein gemacht. Und du stehst wieder einmal vor dem inneren Dilemma:
- Du lächelst und nickst. Du willst keinen Streit, also sagst du: „Ach so, danke für den Tipp.“ Doch innerlich ärgerst du dich – über ihn und über dich selbst. Du fühlst dich nicht ernst genommen. Hinzu kommt: Dadurch, dass du ihm signalisierst, dass seine Einmischung hilfreich und willkommen ist, bestätigst du ihn in seinem Verhalten und ermutigst ihn zu weiteren „hilfreichen Tipps“.
- Du konterst scharf. Du sagst: „Ich mache das, wie ich will – mische dich bitte nicht ständig ein!“ Du setzt eine klare Grenze, aber vielleicht auf eine Weise, die dir unangenehm ist und bei der du befürchtest, das nachbarschaftliche Verhältnis auf Dauer zu beschädigen. Du fühlst dich zwar befreit, aber gleichzeitig auch schuldig, weil du deine Reaktion als „unhöflich“ empfindest.
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Beide Varianten sind nicht optimal. Aber es gibt einen dritten Weg:
- Du reagierst freundlich und bestimmt. Du sagst z. B.: „Ich weiß, dass du viel Erfahrung hast, aber das ist nicht der erste Baum, den ich pflanze. Ich möchte meinen Garten auf meine Weise gestalten. Ich hoffe, du kannst das respektieren.“ Du bleibst höflich – und setzt dennoch eine klare Grenze.
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Auch hier zeigt sich: Es geht nicht darum, unfreundlich zu werden. Es geht darum, deinen Raum zu wahren, ohne dein Selbstbild als respektvoller Mensch zu verlieren.
Fazit
Wenn zwei Welten aufeinanderprallen, ist das nicht das Ende deiner Werte – sondern ihre Bewährungsprobe.
Du darfst lernen, dich zu schützen, ohne dich zu verlieren.
Du darfst Grenzen setzen, ohne dein Herz zu verschließen.
Und du darfst ein Mensch sein, der freundlich ist – auch zu sich selbst.